Bandscheibenvorfälle stellen eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen in der Kleintiermedizin dar. Neben den typischen Bandscheibenvorfällen, welche zu einer Kompression des Rückenmarks führen, existieren solche, welche sich anders zeigen. Hierzu gehört die akute, nicht-kompressive Nucleus pulposus Extrusion. Aufgrund veränderter Druckverhältnisse in der Bandscheibe, ausgelöst durch Trauma oder körperliche Anstrengung, entsteht ein Riss im äußeren Bindegewebsring der Bandscheibe („Annulus fibrosus“) und erlaubt das Vorfallen vom inneren, gallertigen Kern der Bandscheibe („Nucleus pulposus“) in den Wirbelkanal bei hoher Geschwindigkeit. Dies führt zu einer Prellung des Rückenmarks. Das Material verteilt sich daraufhin und löst sich im Wirbelkanal auf, weshalb keine Rückenmarkskompression vorliegt.


Klinische Symptome

Eine ANNPE kann bei Hunden und Katzen jeder Rasse auftreten, große Rassen und der Border Collie scheinen jedoch häufiger betroffen. Das durchschnittliche Alter liegt bei 7 Jahren.

Die neurologischen Symptome treten typischerweise ganz plötzlich auf und äußern sich meist als Lähmungserscheinungen der Gliedmaßen. Ob nur die Hinterbeine oder auch die Vorderbeine betroffen sind, hängt vom Ort des Vorfalls innerhalb der Wirbelsäule ab. In etwa zwei Drittel der Fälle sind die Symptome lateralisiert, d.h. eine Körperseite zeigt deutlichere Ausfälle als die andere. Häufig wird zu Beginn der Symptome zwar ein Aufschreien beobachtet; im Gegensatz zu den typischen Bandscheibenvorfällen sind betroffene Tiere jedoch danach häufig nicht mehr deutlich schmerzhaft.


Diagnose

Zur Diagnosestellung sind bildgebende Untersuchungen nötig. In Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule ist an der betroffenen Stelle womöglich ein verengter Zwischenwirbelspalt vorhanden; dies ist jedoch bei weitem nicht in allen Fällen gegeben und ist ein unspezifischer Befund. In der Myelografie oder Myelo-Computertomografie ist ein intramedulläres Muster zu verzeichnen, sowie in ungefähr der Hälfte der Fälle zusätzlich ein extradurales Muster. Die genaue Lokalisation der Nucleus pulposus Extrusion ist jedoch mit diesen Methoden oft nicht sicher festzustellen. Eine Magnetresonanztomografie bildet daher den Goldstandard zur Diagnosestellung. Typische Befunde sind dort eine T2-gewichtete Hyperintensität und T1-gewichtete Isointensität innerhalb des Rückenmarks und über einer Bandscheibe lokalisiert. Eine nennenswerte Rückenmarkskompression liegt nicht vor. Die intramedulläre Läsion ist in der Regel weniger als einen Wirbelkörper lang. Der betroffene Bandscheibenkern ist kleiner und zeigt eine herabgesetzte Signalintensität im Vergleich zu den anderen Bandscheiben; außerdem ist der Zwischenwirbelspalt schmäler. Die Größe der Gewebeschädigung, den transversalen Sequenzen des Rückenmarks entnommen, wurde als prognostischer Faktor beschrieben.

In einer Notfallsituation und ohne Möglichkeit zur Durchführung einer MRT kann eine Myelografie/Myelo-CT in der Entscheidung betreffend operativer Dekompression hilfreich sein.


Therapie und Prognose

Da keine Rückenmarkskompression vorliegt, ist eine Operation nicht hilfreich. Die Therapie ist daher rein konservativ und setzt sich aus Physiotherapie und pflegerischen Maßnahmen zusammen. Bei Hunden mit Schmerzen kann entzündungshemmende und analgetische Medikation eingesetzt werden. Oftmals wird außerdem eine Ruhighaltung während 4 bis 6 Wochen empfohlen, um weiteres Vorfallen von Nucleus pulposus Material durch den Riss im Bindegewebsring zu verhindern. Die Prognose ist vom neurologischen Grad abhängig und ist bei Hunden, welche nicht plegisch (d.h. komplett gelähmt) sind, sehr gut. Bei Hunden mit Plegie (mit oder ohne Tiefenschmerz) liegt die Chance auf eine Erholung laut vorhandener Literatur bei ungefähr 50%. Zu beschriebenen Langzeitkomplikationen zählt die fäkale Inkontinenz und tritt einer Studie zufolge in fast einem Viertel der Fälle ein.


Zusammenfassung

Bei akutem Auftreten von neurologischen Ausfällen passend zu einer Rückenmarkslokalisation muss eine ANNPE in Betracht gezogen werden. Weiter bestärkend sind Hinweise wie fehlende Schmerzen, Lateralisierung der Symptome und grosse Rassen. Wichtig ist außerdem zu erwähnen, dass diese Krankheit kaum fortschreitend ist; die Symptome können sich in manchen Fällen gar innert Stunden verbessern. So kann in vielen Fällen bereits nach klinischer und neurologischer Untersuchung der Verdacht einer ANNPE geäußert werden. Sofortige bildgebende Diagnostik ist bei hochgradigem Verdacht also nicht immer zwingend nötig. Dennoch kann sie erfolgen, um eine kompressive Rückenmarkserkrankung (Bandscheibenextrusion oder /-protrusion) und damit den Bedarf eines je nach Klinik notwendigen operativen Eingriffs auszuschließen. Für diese Fragestellung ist eine Myelografie oder eine CT/Myelo-CT ausreichend. Eine wichtige Differentialdiagnose bei einer ANNPE ist eine fibrokartilaginöse embolische Myelopathie (FCE). Obwohl hinweisende Charakteristika bestehen, ist eine sichere Differenzierung zwischen ANNPE und FCE mittels MRT meist nicht möglich, wobei in der aktuellen Literatur spezielle MRT-Sequenzen (diffusion-weighted imaging) vielversprechende Resultate liefern. Die Unterscheidung zwischen beiden Krankheiten ist jedoch von geringer klinischer Relevanz, da die Therapie und Prognose vergleichbar sind.